Peter H. Schmitt | Mediation Coaching Training

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Der feine Unterschied

Schlüsselunterscheidungen

Durch Schlüsselunterscheidungen zur Klarheit

Warum scheitern manche Menschen immer wieder in der Kommunikation, während andere scheinbar mühelos Verbindung schaffen? Warum klingen manche Gespräche nach wenigen Sätzen wie ein Verhör, während andere sich anfühlen wie ein Tanz?

Die Antwort liegt in drei fundamentalen Unterscheidungen, die den Kern der Gewaltfreien Kommunikation ausmachen. Diese Unterscheidungen sind wie unsichtbare Weichen im Gespräch – je nachdem, welche Richtung wir einschlagen, führen sie entweder zu Verbindung oder zu Trennung.

Viele Menschen scheitern nicht daran, dass sie schlecht kommunizieren wollen. Sie scheitern daran, dass sie diese drei Unterscheidungen nicht kennen und deshalb immer wieder in dieselben Fallen tappen.

Die erste Schlüsselunterscheidung: Gefühl vs. Pseudogefühl

Was echte Gefühle sind – und was nicht

Emma kommt nach einem schwierigen Tag in der Schule nach Hause und sagt zu ihrer Mutter Lisa: “Ich fühle mich ausgegrenzt.”

Auf den ersten Blick hört sich das an wie ein Gefühl. Doch Lisa, die mittlerweile etwas über GFK gelernt hat, merkt: Da ist etwas faul. “Ausgegrenzt” beschreibt nicht, was in Emma vorgeht, sondern was andere mit ihr getan haben.

Der Test: Kann ich das Wort “von dir” anhängen?

  • “Ich fühle mich ausgegrenzt von euch” → Das ist ein Pseudogefühl
  • “Ich bin traurig von dir” → Macht keinen Sinn → Das ist ein echtes Gefühl

Echte Gefühle: Die Sprache deines Herzens

Echte Gefühle beschreiben, was in dir vorgeht:

  • Angenehme Gefühle: zufrieden, erleichtert, hoffnungsvoll, dankbar, entspannt, lebend, friedlich
  • Herausfordernde Gefühle: traurig, ängstlich, frustriert, erschöpft, enttäuscht, irritiert, unruhig

Diese Worte beschreiben deine innere Landschaft – niemand anders kann dafür verantwortlich gemacht werden.

Pseudogefühle: Versteckte Vorwürfe

Pseudogefühle sind Gedanken und Interpretationen, die als Gefühle verkleidet sind:

  • “Ich fühle mich ignoriert” = “Du ignorierst mich”
  • “Ich fühle mich missverstanden” = “Du verstehst mich nicht”
  • “Ich fühle mich kritisiert” = “Du kritisierst mich”
  • “Ich fühle mich manipuliert” = “Du manipulierst mich”

Warum das problematisch ist: Pseudogefühle machen andere für deine Gefühle verantwortlich. Sie laden zu Rechtfertigung und Gegenangriff ein, statt zu Verständnis und Verbindung.

Aus Pseudogefühlen echte Gefühle machen

Wolfgang zu Gisela:

  • Pseudogefühl: “Ich fühle mich nicht wertgeschätzt von dir.”
  • Echter Weg: “Wenn du nicht auf meine Nachrichten antwortest, bin ich traurig und unsicher, weil mir unsere Verbindung wichtig ist.”

Sandra zu ihrem Team:

  • Pseudogefühl: “Ich fühle mich von euch im Stich gelassen.”
  • Echter Weg: “Wenn Deadlines ohne Rückmeldung verstreichen, bin ich gestresst und besorgt, weil mir Verlässlichkeit wichtig ist.”

Emma zu Lisa:

  • Pseudogefühl: “Ich fühle mich missverstanden.”
  • Echter Weg: “Wenn ihr meine Musik zu laut findet, bin ich frustriert, weil mir Selbstausdruck wichtig ist.”

Die zweite Schlüsselunterscheidung: Bedürfnis vs. Strategie

Der verhängnisvolle Verwechslungsirrtum

Lisa sagt zu Emma: “Ich brauche, dass du dein Zimmer aufräumst!” Wolfgang sagt zu Gisela: “Ich brauche, dass du pünktlicher bist!” Sandra sagt zu ihrem Team: “Ich brauche, dass ihr professioneller werdet!”

Was ist hier das Problem? Alle drei verwechseln ihre Strategie mit ihrem Bedürfnis. Sie glauben, es gäbe nur einen Weg, ihr Bedürfnis zu erfüllen – und dieser Weg erfordert, dass andere etwas Bestimmtes tun.

Bedürfnisse: Universal und verbindend

Bedürfnisse sind das, was alle Menschen brauchen, um zu gedeihen:

  • Körperliche Bedürfnisse: Nahrung, Schlaf, Bewegung, Sicherheit
  • Verbindung: Zugehörigkeit, Liebe, Vertrauen, Intimität
  • Autonomie: Entscheidungsfreiheit, Selbstbestimmung, Wahlmöglichkeiten
  • Sinn: Zweck, Beitrag, Wachstum, Kreativität
  • Spiel: Freude, Humor, Leichtigkeit

Das Besondere: Bedürfnisse sind universell. Jeder Mensch hat sie. Sie verbinden uns, weil wir sie alle kennen.

Strategien: Spezifisch und trennend

Strategien sind die konkreten Wege, wie wir versuchen, unsere Bedürfnisse zu erfüllen:

  • Lisas Bedürfnis: Harmonie und Ordnung
  • Lisas Strategie: Emma soll ihr Zimmer aufräumen
  • Andere mögliche Strategien: Gemeinsam aufräumen, Aufräumplan erstellen, Emmas Zimmer akzeptieren, wie es ist

Das Problem: Wenn wir unsere Strategie für unser Bedürfnis halten, wird aus unserem menschlichen Bedürfnis eine Forderung an andere.

Die befreiende Entdeckung

Wolfgang früher: “Gisela, ich brauche, dass du pünktlicher bist!” (Strategie als Bedürfnis)

Wolfgang heute: “Gisela, wenn du zu spät kommst, bin ich angespannt, weil mir Verlässlichkeit und Planbarkeit wichtig sind. Könnten wir schauen, wie wir beide damit zurechtkommen?”

Plötzlich öffnen sich neue Möglichkeiten:

  • Gisela könnte früher Bescheid geben
  • Wolfgang könnte lernen, flexibler zu sein
  • Sie könnten Puffer einplanen
  • Sie könnten ihre unterschiedlichen Zeittypen akzeptieren

Die Magie: Wenn wir zum Bedürfnis durchdringen, entstehen kreative Lösungen, die vorher unmöglich schienen.

Praktische Übung: Von der Strategie zum Bedürfnis

Vervollständige diese Sätze:

  • “Ich brauche, dass du…” → “Mir ist wichtig…”
  • “Du solltest…” → “Ich sehne mich nach…”
  • “Es ist notwendig, dass…” → “Ich brauche…”

Beispiel:

  • “Ich brauche, dass du mich anrufst” → “Mir ist Verbindung und Sicherheit wichtig”
  • “Du solltest ehrlicher sein” → “Ich sehne mich nach Klarheit und Vertrauen”
  • “Es ist notwendig, dass wir uns regelmäßig treffen” → “Ich brauche Nähe und Austausch”

Die dritte Schlüsselunterscheidung: Bitte vs. Forderung

Der unsichtbare Unterschied mit großer Wirkung

Sandra zu Wolfgang: “Könntest du bitte bis morgen den Bericht fertigstellen?”

Ist das eine Bitte oder eine Forderung? Du kannst es nicht an den Worten erkennen. Der Unterschied liegt in Sandras innerer Haltung – und Wolfgang wird ihn sofort spüren.

Was Bitten zu Forderungen macht

Forderungen entstehen, wenn:

  • Du innerlich schon die Bestrafung planst, falls ein “Nein” kommt
  • Du die andere Person für ihre Antwort verurteilst
  • Du glaubst, dass nur deine Lösung richtig ist
  • Du die Entscheidungsfreiheit der anderen Person nicht respektierst

Die Auswirkung: Menschen reagieren auf Forderungen mit Rebellion oder Unterwerfung – beides zerstört langfristig die Beziehung.

Echte Bitten: Der Raum für “Nein”

Wolfgang zu Gisela (Bitte): “Könntest du heute das Geschirr spülen? Wenn das für dich schwierig ist, können wir gerne schauen, was stattdessen möglich wäre.”

Wolfgang zu Gisela (Forderung): “Könntest du heute das Geschirr spülen?” (Und innerlich denkt er: “Wenn sie nein sagt, räume ich wochenlang nicht auf.”)

Der “Nein”-Test

Die entscheidende Frage: Wie reagierst du, wenn die andere Person “Nein” sagt?

Bei einer echten Bitte:

  • Du bleibst neugierig: “Was macht es für dich schwer?”
  • Du suchst nach Alternativen: “Was könntest du dir stattdessen vorstellen?”
  • Du respektierst die Entscheidung: “Okay, dann schauen wir nach anderen Wegen.”

Bei einer versteckten Forderung:

  • Du wirst ärgerlich: “Ständig hilfst du mir nicht!”
  • Du bestrafst: Schmollen, Vorwürfe, Schweigen
  • Du manipulierst: “Dann vergiss es eben. Ich mache alles alleine.”

Emma und der Mut zum “Nein”

Emma zu Lisa: “Mama, könntest du nicht mehr unangekündigt in mein Zimmer kommen?”

Lisa früher (hört eine Forderung): “Das ist noch immer unser Haus! Ich kann gehen, wohin ich will!”

Lisa heute (hört eine Bitte): “Du möchtest mehr Privatsphäre? Erzähl mir, was dir wichtig ist. Vielleicht können wir einen Weg finden, der für uns beide passt.”

Die paradoxe Wahrheit

Je mehr du bereit bist, ein “Nein” zu akzeptieren, desto wahrscheinlicher bekommst du ein “Ja”. Warum? Weil Menschen sich nicht gegen dich wehren müssen, wenn sie sich frei fühlen.

Alles zusammenfügen: Ein praktisches Beispiel

Die Situation: Wolfgang kommt nach Hause und sieht, dass Gisela vor dem Fernseher sitzt, während die Küche unaufgeräumt ist.

Version 1: Alle Fallen gleichzeitig

“Gisela, ich fühle mich nicht respektiert (Pseudogefühl). Ich brauche, dass du mehr Rücksicht nimmst (Strategie statt Bedürfnis). Kannst du nicht mal das Geschirr wegräumen? (Forderung im Bitte-Gewand)

Ergebnis: Gisela fühlt sich angegriffen und geht in die Defensive.

Version 2: Alle Unterscheidungen beachtet

“Gisela, ich sehe das Geschirr noch in der Spüle (Beobachtung). Ich bin müde und angespannt (echtes Gefühl), weil mir nach einem langen Tag Entspannung und Ordnung wichtig sind (Bedürfnis). Könntest du mir helfen, einen Weg zu finden, wie wir beide unsere Bedürfnisse erfüllen können? (echte Bitte)

Ergebnis: Ein konstruktives Gespräch über Bedürfnisse und Lösungen.

Deine praktische Transformation

Übung 1: Gefühls-Detektiv

Führe eine Woche lang ein Gefühls-Tagebuch. Wenn du schreibst “Ich fühle mich…”, frage dich:

  • Kann ich “von dir/euch” anhängen? → Dann ist es ein Pseudogefühl
  • Beschreibt es, was in mir vorgeht? → Dann ist es ein echtes Gefühl

Übung 2: Bedürfnis-Forscher

Wenn du dich dabei erwischst zu denken “Er/Sie sollte…”, frage dich:

  • Was ist mein eigentliches Bedürfnis dahinter?
  • Welche anderen Strategien könnte es geben?
  • Wie kann ich mein Bedürfnis ausdrücken, ohne den anderen zu einer bestimmten Handlung zu verpflichten?

Übung 3: Der “Nein”-Check

Bevor du das nächste Mal um etwas bittest, frage dich ehrlich:

  • Bin ich wirklich bereit, ein “Nein” zu akzeptieren?
  • Was würde ich tun/denken/fühlen, wenn die andere Person ablehnt?
  • Ist das eine Bitte oder eine versteckte Forderung?

Die wichtigsten Erkenntnisse

  • Echte Gefühle beschreiben dein Innenleben – Pseudogefühle sind versteckte Vorwürfe
  • Bedürfnisse sind universell und verbinden – Strategien sind spezifisch und können trennen
  • Bitten respektieren die Entscheidungsfreiheit – Forderungen zwingen und schaffen Widerstand
  • Diese drei Unterscheidungen sind die unsichtbaren Weichen, die bestimmen, ob Gespräche zu Verbindung oder Trennung führen

Dein Weg zur Meisterschaft

Diese Unterscheidungen zu verinnerlichen braucht Zeit und Übung. Sei geduldig mit dir. Jedes Mal, wenn du eine dieser Fallen bemerkst – bei dir oder anderen – wächst dein Bewusstsein.Es sind übrigens nicht die einzigen Schlüsselunterscheidungen. Auf der folgenden Seite habe ich eine Übersicht mit weiteren GFK Schlüsselunterscheidungen erstellt.

Das Schöne ist: Du musst nicht perfekt sein. Schon das Bewusstsein für diese Unterscheidungen verändert deine Kommunikation fundamental. Du wirst merken, wie sich Gespräche entspannen, wie Widerstände schwinden und wie aus Problemen Lösungen werden.

Im nächsten Kapitel schauen wir auf die andere Seite der Kommunikation: Wie hörst du anderen so zu, dass sie sich wirklich verstanden fühlen? Denn die Kunst des empathischen Zuhörens ist genauso wichtig wie das klare Ausdrücken – vielleicht sogar wichtiger.